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Hannover,

Flucht aus der Ukraine: "Es ist noch zu früh für Psychotherapie"

Warum Psychotherapie bei Geflüchteten derzeit kontraproduktiv wäre, erklärte der Diplom-Psychologe Professor Dr. phil. Klaus-Peter Seidler von der Medizinischen Hochschule Hannover im Live-Talk der Ärztekammer Niedersachsen.

Foto: ÄKN
Diplom-Psychologe und Traumaexperte Prof. Dr. Klaus-Peter Seidler (links) war am 28. März zu Gast im ÄKN-Live-Talk und beantwortete die Fragen von Moderator und ÄKN-Kommunikationschef Thomas Spieker.

Die Flüchtlinge aus der Ukraine erreichen Deutschland in einer akuten Belastungssituation, die mit vielen Ängsten und psychosomatischen Beschwerden einhergehen kann. Werden diese belastenden Erfahrungen nicht gut verarbeitet, können sie sich zu einer Depression, Sucht oder Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) entwickeln, warnte Professor Dr. phil. Klaus-Peter Seidler im jüngsten Live-Talk der Ärztekammer Niedersachsen (ÄKN) am 28. März. Die Psychotherapie biete jedoch gute Erfolgschancen bei der Traumabewältigung, sagte der Diplom-Psychologe von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und erläuterte im Talk, welche Faktoren das Risiko für die Entwicklung von PTBS reduzieren.

Seidler leitet die Trauma-Sprechstunde in der Psychiatrischen Institutsambulanz der MHH. Wiederholte oder lang anhaltende traumatische Erfahrungen könnten zu komplexen Traumafolgestörungen führen, erklärte der Experte: "Das Erleben von Traumata kann ganz unterschiedlich sein." Eine verfrühte psychologische Intervention könne bei traumatisierten Menschen eher zu einer Instabilisierung führen. Wichtiger ist es Seidler zufolge, den Geflüchteten "Sicherheit, Orientierung und soziale Unterstützung zu geben". Entscheidend sei es jetzt, den Menschen aus der Ukraine bei ihrer Einbindung in soziale Strukturen zu helfen.

Um Traumafolgestörungen wie PTBS zu verhindern oder abzumildern, können laut Seidler Strategien der Notfallpsychologie hilfreich sein. Psychoedukation sowie die Eingliederung in den Alltag und soziale Strukturen hülfen den Geflüchteten in den akuten Belastungssituationen, bekräftigte der Diplom-Psychologe. Die Finanzierung der psychologischen Versorgung stelle jedoch ein Problem dar: "Psychotherapie ist bei Flüchtlingen nicht unbedingt vorgesehen." Außerdem werde die Therapie in Gruppen durchgeführt. Dabei sei die Sprachbarriere "eine große Hürde", erläuterte Seidler. Auch seien die Antragsverfahren für Dolmetscher sehr langwierig: "Da passen die Konzepte gar nicht." Stattdessen würden Organisationen wie das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge (NTFN) wichtige Ansprechpartner darstellen.

Um traumatisierten Menschen zu helfen, sei es wichtig, sensibel und verständnisvoll zu agieren, betonte der Experte. Das gelte sowohl für die aus der Ukraine Geflüchteten als auch für Menschen mit Kriegserfahrungen, die nun erneut durch die Nachrichten mit ihrem eigenen Trauma konfrontiert werden könnten. Es sei notwendig, den Betroffenen "Raum zu geben". Nicht jeder möchte über seine Erfahrungen reden, so Seidler. In diesen Fällen könne es für unter der Situation leidende Angehörige hilfreich sein, selbst einer Selbsthilfegruppe beizutreten.

Die 38. Live-Talk-Folge der Ärztekammer Niedersachsen vom 28. März 2022 können Sie jetzt im Nachgang auf YouTube ansehen.

(Hinweis: Mit Quellenangabe ist der Talk für alle Radio- und Fernsehsender nutzbar. Gerne stellen wir Ihnen für die redaktionelle Verwendung separate Audio- oder Video-Dateien zur Verfügung.)

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Seit Mitte März 2020 bietet die Ärztekammer Niedersachsen einen regelmäßigen Live-Talk zu aktuellen Fragen der Gesundheitsversorgung mit Expertinnen und Experten aus Politik, Wirtschaft und Medizin an. Alle bisherigen 38 Folgen finden Sie auf dem YouTube-Kanal der ÄKN.

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Kontakt: Thomas Spieker, Leiter Kommunikation und Pressesprecher der Ärztekammer Niedersachsen
Telefon: 0511 380-2220, E-Mail: kommunikation(at)aekn.de

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