Im aktuellen Live-Talk der Ärztekammer Niedersachsen stand die medizinische Erstversorgung für Geflüchtete aus der Ukraine nach dem Grenzübertritt und nach der Ankunft in Deutschland im Fokus.
Die Ärztin und Psychiaterin Tatjana Seidler erzählte von ihren Erfahrungen und dem großen Hilfebedarf in der Behandlung und Betreuung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen in der Notfallunterkunft in Halle 27 auf dem Gelände der Deutschen Messe in Hannover: "Wir wurden von den Müttern und ihren kranken Kindern regelrecht überrannt", beschrieb die Ärztin ihren ersten Einsatztag nach Eröffnung der Notunterbringung. Zudem sprach sie die Belastungssituation der Menschen an: "Es hat sich in den ersten Tagen sehr deutlich gezeigt, dass die Kinder durch die Flucht - teilweise tagelange Flucht - sehr mitgenommen oder sehr belastet waren." Auch die Mütter seien massiv erschöpfst, verunsichert und orientierungslos gewesen.
Trotzdem sie in erster Linie für die Betreuung der Kinder zuständig ist, ist es Seidler auch ein Anliegen, den Müttern zu helfen. Viele hätten zunächst das Wohl ihrer Kinder in den Fokus gestellt, aber weiterhin "großen Beratungsbedarf", etwa um aufgetretene Symptome der Kinder wie Schlafstörungen, Alpträume, Verdauungsbeschwerden oder auch Fütterstörungen, die oftmals kleinere Kinder und Säuglinge beträfen, aufzuklären.
Die Ärztin, die selbst ukrainisch spricht, stellte heraus, dass Kenntnisse der ukrainischen Sprache von Vorteil für die Verständigung, aber keineswegs eine Voraussetzung für die ärztliche und seelsorgerische Betreuung seien - so würde sich auch das medizinische Personal vor Ort mithilfe von Dolmetschenden sowie moderner Technik wie Apps verständigen.
Trotz der hohen Belastungen, mit denen die Geflüchteten umgehen müssten, zeigte sich Seidler zuversichtlich: Die Situation habe sich über die Wochen normalisiert, viele Symptome seien rückläufig oder gar nicht mehr vorhanden.
Vor allem beeindruckt ist die Ärztin von Kindern, die die Erfahrungen auf spielerische Weise verarbeiten und sich als Helden darstellten: Kleine Helden, die die Flucht auch dank ihrer Fantasie bestanden haben und belastende Erfahrungen so abspeichern, dass das alles einen Sinn hat und durchgemacht werden muss, um in Sicherheit zu sein. "Solche Kinder sind resistenter und widerstandsfähiger als solche, die noch nicht in der Lage sind darüber zu sprechen", ordnete die Expertin ein.
Dr. med. Wahjat Waraich, Arzt und Bürgermeister im hannoverschen Stadtbezirk Bothfeld-Vahrenheide, berichtete als weiterer Gast im Talk von seinem ärztlichen Einsatz an der polnischen Grenze in Medyka und der Versorgung von Geflüchteten dort. Die Situation sei anfangs sehr unübersichtlich und unorganisiert gewesen und die vor Ort tätigen Hilfsorganisationen weiterhin damit beschäftigt, Strukturen zu schaffen. Vermehrt hob er die erlebte Hilfsbereitschaft vor Ort vor: "Ich bin beeindruckt von der Solidarität der polnischen Bevölkerung", so der Arzt im Talk. Er betonte, wie wichtig es ist, gerade in solchen Notsituationen früh vor Ort zu sein und Hilfe zu leisten.
Zusätzlich zu den Bemühungen der Erstversorgung forderte der Arzt dazu auf, auch längerfristig zu denken. Er betonte, dass es für Geflüchtete, die etwa nach Deutschland kommen, wichtig sei, schnell Normalität herzustellen und appellierte daran, im Umgang mit den Geflüchteten realistisch zu bleiben: "So schnell werden die Menschen, die dort geflohen sind, nicht zurück können und dementsprechend brauchen diese Menschen auch hier eine Perspektive. Damit sie einigermaßen wieder eine Realität erleben und sich stabilisieren zu können."
Die aktuelle Talk-Folge vom 4. April können Sie über den Youtube-Kanal sowie die Webseite der ÄKN aufrufen.
(Hinweis: Mit Quellenangabe ist der Talk für alle Radio- und Fernsehsender nutzbar. Gerne stellen wir Ihnen für die redaktionelle Verwendung separate Audio- oder Video-Dateien zur Verfügung.)
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